Astrid Baumgartner und Adelheid Signer mögen ihr Zwillingsein
Von Dominik Heitz. Aktualisiert am 09.08.2008 Artikel Online >>
Als wir vor den eineiigen Zwillingen Astrid und Adelheid (46) stehen, machen sie es uns leicht, sie anhand wenigstens eines deutlichen Merkmals zu unterscheiden. Sie lachen beide gerne, und sie lachen viel. Dann verraten sie ihren kleinen Unterschied: Adelheid hat seit ihrer Kindheit zwischen den beiden oberen Schneidezähnen eine Zahnlücke.
Sie mögen ihr Zwillingsein. Für unser Treffen haben sie sich quasi übers Kreuz einheitlich gekleidet: Astrid trägt eine weisse, offene Bluse über einem dunklen Top, Adelheids Bluse ist dunkel und das Top weiss. Astrid Baumgartner und Adelheid Signer präsidieren seit sechs Jahren den Schweizerischen Zwillingsverein. Schon als sie noch die Töchter Böni waren, wollten sie dem Verein beitreten, doch Ausbildung und berufliche Weiterbildung verzögerten dies. So stiessen sie erst mit 32 dazu.
Den Verein gibt es, weil das Ehepaar Trudy und Willy Rahm mit seinen Zwillingsbuben Hans und Peter im Jahr 1976 ein amerikanisches Zwillingstreffen besuchte. Sie waren so begeistert davon, dass sie den Zwilling Fritz Eichholzer kontaktierten. Gemeinsam gründeten sie zusammen mit über 1400 Zwillingen am 2. Oktober 1976 den Schweizerischen Zwillingsverein im Hotel Spirgarten in Zürich. Seither treffen sich die Vereinsmitglieder regelmässig einmal im Jahr zu einem Ausflug mit Abendprogramm. Dann wird auf «doppeltes Lottchen» gemacht: Man kleidet sich identisch und freut sich, einander gegenseitig zu verunsichern.
Astrid und Adelheid macht dieses Verwirrspiel Spass. Praktisch jedes Jahr kaufen sie sich für den Anlass neue Kleider im Doppel und lassen sich am Tag vor dem Treffen von einem Coiffeur den exakt gleichen Haarschnitt verpassen. In den letzten zwanzig Jahren ist die Mitgliederzahl stetig zurückgegangen. Heute sind noch knapp 500 im Verein eingeschrieben. Mit dabei sind immer noch die eineiigen Zwillinge Hans und Peter Rahm. Sie nehmen eine besondere Stellung ein. Zwilling zu sein, hat ihnen nicht gereicht. Sie suchten nach einer Art Verdoppelung und fanden sie in ihren Ehefrauen, den eineiigen Zwillingen Doris und Heidi. Man munkelt, sie seien im Zwillingsverein auf Brautschau gegangen. Jetzt haben die Ehepaare im gleichen Haus je eine Wohnung, die exakt gleich eingerichtet ist. «Sie leben das Zwillingsein richtig aus», sagen Astrid und Adelheid.
Spiegelverkehrt
Dieses mehrfach verdoppelte Lebensmuster mag auf viele verstörend wirken. Denn Spiegelungen sind mit Identitätssuche und Angst vor Identitätsverlust gekoppelt. Das mögen nicht alle. Wer in den Spiegel schaut, sieht sich und im spiegelverkehrten Gesicht doch auch einen anderen: Der Scheitel fällt im Spiegelbild nach links, nicht nach rechts. Zwillinge sind sich gegenseitig Spiegelbild. So kann es vorkommen, dass sie in den beidseitigen Gemeinsamkeiten ihre persönliche Identität suchen und sich bei einseitigen Defiziten Gedanken machen: Warum hat er nachts nicht Angstwie ich? Weshalb fehlt mir im Sport ihr Kampfgeist? Warum male ich schlechter als er?
Andere identisch aussehende Zwillinge wiederum suchen bewusst nach ihrem je eigenen individuellen Lebensweg. Doch weil sie wissen, dass ihr Ursprung im gleichen Ei liegt, können auch existenzielle Ängste darüber aufkommen, ob sich das Persönliche wirklich im Individuellen entwickeln kann, oder ob einen das Identische womöglich gefangen nimmt. Werde ich wie andere Zwillinge unverheiratet bleiben und bis zum Tod mit meinem Zwilling zusammenleben? Muss ich mit demselben Herzleiden rechnen, das meine Schwester plagt? Bin ich vielleicht – wie mein Zwillingsbruder – schwul?
Adelheid und Astrid wurden von ihren Eltern als Zwillinge streng erzogen. Vater und Mutter nannten sie «die Chliine» und strichen das Doppelte im Identischen hervor. «Gleiche Kleider, gleiche Frisur, gleiche Schule und gleiche Klasse.» Sogar der Lehrer in der Primarschule nahm sie als «eine Portion» wahr und meinte, den beiden Zwillingsschwestern nur ein Buch und ein Heft geben zu müssen. «Es war uns von den Eltern auch verboten, mit unserem Zwillingsein zu spielen. Wir durften uns nicht als die andere ausgeben», sagt Adelheid. Und Astrid sagt: «Das holen wir jetzt im Alter ein wenig nach.»
Obschon sie mit vier Geschwistern aufwuchsen, steckten sie als Kinder ständig zusammen. Allerdings entwickelten sie nicht, wie das bei eineiigen Zwillingen in ganz jungen Jahren gerne der Fall ist, eine Art Geheimsprache, die nur von ihnen verwendet und nur von ihnen verstanden wurde. Mit der Pubertät wurde dann bei Adelheid und Astrid der Wunsch nach mehr Individualität wach. Doch erst nach der Schulzeit durften sie sich unterschiedlich kleiden. Beruflich gingen sie ebenfalls eigene Wege.
Adelheid liess sich zur diplomierten Pflegefachfrau ausbilden und lebt heute mit ihrer Familie in Villigen bei Brugg. Astrid wurde Koch – nicht Köchin. «Als Köchin lernte man damals nur zwei Jahre, als Koch drei.» Sie arbeitet als stellvertretender «Küchenchef» im Personalrestaurant von Radio DRS in Bern.
Gut und böse
Gab es je Verschiedenheiten oder vielleicht sogar Zweifel, nicht das zu erreichen, was die Zwillingsschwester schaffte? «In Deutsch und Mathe waren wir in der Schule unterschiedlich gut», sagt Astrid, «und Adelheid war die mutigere.» Auch heute noch? «Ja!» – «Nein!», sagt Adelheid. Beide lachen.
Sie können aber auch etwas ernster werden. «Adelheid bedauert es bis heute, nicht wie ich mehrere Jahre im Ausland gewesen zu sein», sagt Astrid. «Und ich fragte mich damals, als Adelheid bereits verheiratet war, ob ich noch je einen Mann finden würde.» Ihre Schwester Adelheid heiratete 1986 und gebar vier Kinder; zwei Buben und zwei Mädchen, die heute zwischen 15 und 21 Jahre alt sind. Astrid heiratete erst 1993 und blieb kinderlos. «Manchmal denke ich schon, es wäre schön gewesen, Kinder zu haben», sagt sie. «Aber jede hat eben ihren eigenen Weg gesucht. Wir haben uns noch nie etwas missgönnt. Adelheid ist meine beste Freundin und umgekehrt.»
Heute geniesst sie es, die Kinder ihrer Schwester um sich herum zu haben. Ein- bis zweimal im Monat sehen sich A und A. In der Regel geht dann Astrid zu Adelheid. Und unter der Woche telefonieren sich zweimal. In den letzten Jahren waren von den durchschnittlich 74 000 Geburten pro Jahr in der Schweiz rund 1160 Zwillingsgeburten – eine tiefe Quote.
Kein Wunder, ranken sich um Zwillinge seit Jahrhunderten Mythen und Legenden. Heute ist man über die Entstehung eineiiger Zwillinge im Bilde. Früher war das anders. Deshalb ist die Geschichte der Zwillinge auch eine Geschichte von Aberglauben, Missverständnissen und Nichtwissen. Bei einigen Völkern wurden sie verehrt, bei andern gefürchtet. Oft werden Zwillinge als Götter erwähnt, von denen der eine das Gute und der andere das Böse verkörpert. Kastor und Pollux gelten in der griechischen Mythologie als Zwillingsgötter des Morgen- und Abendsterns.
Amerikanische Indianer erzählen sich, der Weisse Manitu, der Herr des Lebens, und der Schwarze Manitu, der Herr des Todes, seien Zwillinge. Über das Verhalten und die Entwicklung von Zwillingen erzählen jedoch wenige Legenden. Das holte die Zwillingsforschung nach – mit unterschiedlichen Mitteln.
Die grausamen Experimente, die der Arzt Josef Mengele während der Nazi-Zeit durchführte, brachten die Zwillingsforschung lange in Misskredit. Inzwischen ist sie von der Klon-Forschung weit in den Hintergrund gedrängt worden.
Tragische Fälle
Üblicherweise verhalten sich Zwillinge ähnlich wie «normale» Geschwister zueinander. Es gibt aber auch immer wieder gern gehörte Geschichten von Zwillingen, die geradezu telepathische Fähigkeiten haben sollen: von Zwillingen etwa, die – der eine in Europa, der andere in Amerika – fühlen, wenn der Bruder krank ist. Oder von Paaren, dessen eine Schwester die Heirat der anderen nicht verkraftete und aus dem Leben schied.
Astrid und Adelheid kennen keine solchen Zwillinge. Aber als Präsidentinnen des Schweizerischen Zwillingsvereins sind sie durchaus schon mit tragischen Fällen konfrontiert worden. «Da war eine Frau, deren Zwillingsschwester an Krebs gestorben war. Der Verlust erschien ihr so gross, dass sie Selbstmordgedanken plagten. In ihrer Not gelangte sie an den Zwillingsverein und bat um Hilfe.» Ein andermal habe sich der Ehepartner eines Zwillings gemeldet, der unter der engen Beziehung seiner Frau zu ihrer Zwillingsschwester litt, und um Rat suchte.
Deshalb gibt es auch Zeiten, da verstehen sich Astrid und Adelheid nicht allein als Organisatorinnen des jährlichen Zwillingstreffens, «sondern auchals Schlichterinnen, Vermittlerinnen oder Helferinnen». (Basler Zeitung)
Erstellt: 09.08.2008, 19:29 Uhr